ÖNB: Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung (7. März – 28. April 2013)

Zum 75. Jahrestag des „Anschlusses“ zeichnet die Österreichische Nationalbibliothek in der Ausstellung „Nacht über Österreich“ eine Chronologie der damaligen Ereignisse. Gezeigt werden eindrückliche Fotos, persönliche Erinnerungen und literarische Reaktionen derjenigen, die – wie der Schriftsteller Ernst Jandl – den Einmarsch Hitlers 1938 miterleben mussten. Demgegenüber stehen die Lebensgeschichten jener jüdischen KünstlerInnen, die rechtzeitig ins rettende Exil fliehen konnten, unter ihnen die Autoren Albert Drach und Erich Fried, der Schönberg-Schüler Egon Wellesz, die Malerin Soshana und die Salonière Berta Zuckerkandl, deren „Fluchttagebuch” erstmals öffentlich zu sehen ist.

Zusammengetragen aus den einzigartigen Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek, dokumentiert „Nacht über Österreich“ mit rund 200 Exponaten umfassend und materialreich eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Landes.

Heim ins Reich: Propagandaschlacht am Heldenplatz

Am 15. März 1938 hielt Adolf Hitler seine berühmt-berüchtigte „Anschluss”-Rede. Und zwar auf jenem Balkon am Wiener Heldenplatz, unter dem sich heute der Haupteingang zur Österreichischen Nationalbibliothek befindet. Der Fotograf Herbert Glöckler befand sich damals inmitten der Menge, er hatte die zum „Hitlergruß” ausgestreckten Hände direkt vor seinem Objektiv. Sein Foto – es ist das Plakatmotiv von „Nacht über Österreich” – erweckt den Anschein, als befände sich der Bildbetrachter auf Augenhöhe mit den begeisterten Anhängern Hitlers. Es zählt zu jenen verstörenden Fotografien dieser Ausstellung, die den „Anschluss” aus der selten gesehenen Perspektive der jubelnden Menge zeigen.

250.000 Menschen hörten an diesem 15. März ihrem neuen Führer zu, wie er mit sich überschlagender Stimme „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich” verkündete.

Ein dokumentarisch anmutender Wochenschau-Bericht zeugt in „Nacht über Österreich” von den hochgepeitschten Emotionen, aber auch von einer durchinszenierten Massenveranstaltung der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie. Eine Propaganda, die zum Ziel hatte, den „Anschluss” als eine freiwillige Volksbewegung von unten darzustellen. Zeitgeschichtliche Hintergünde wie die innenpolitischen Krisen der Ersten Republik, der politische Druck Deutschlands oder Versuche, die Eigenständigkeit Österreichs zu bewahren, kamen in der medialen Inszenierung des „Anschlusses” selbstverständlich nicht vor. Ein bewusster blinder Fleck der nationalsozialistischen Propaganda, der durch Presse- und Dokumentarfotografien aus der Zeit von 1918 bis 1938 in der Ausstellung schlaglichtartig sichtbar gemacht wird.

Die Anschlusspropaganda veränderte Österreich. Hakenkreuzfahnen, Hitlerbilder, Plakate und Parolen sowie eine gleichgeschaltete Presse schufen eine allgegenwärtige Sichtbarkeit des neuen Regimes. Im Vorfeld der für den 10. April angesetzten Volksabstimmung, die den Einmarsch Hitlers legitimieren sollte, wurden allein in Wien 120 Wahlveranstaltungen abgehalten und in ganz Österreich mehr als 12 Millionen Reichsmark (ca. 53 Millionen Euro) für Wahlwerbung ausgegeben. Auch viele KünstlerInnen beteiligten sich an der Propaganda mit Bekenntnissen, Lobgedichten oder Huldigungskompositionen. Die Propagandaschlacht hatte Erfolg: 99,73 Prozent stimmten für den „Anschluss”. Doch acht Prozent der Wahlberechtigten hatten keine Stimme: Jüdinnen und Juden, sogenannte „Mischlinge” und politisch Inhaftierte.

Flucht ins Ungewisse: 15 Wege ins Exil

Unmittelbar nach dem „Anschluss” begannen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung Österreichs. Jüdinnen und Juden wurden öffentlich beschimpft, Geschäfte mit dem Davidstern bemalt, es kam zu Plünderungen, Beschädigungen und Raub von jüdischem Eigentum. Die Kamera war oftmals Teil dieser Demütigungen, die gezielt für den Fotografen in Szene gesetzt wurden. Albert Hilschers Foto eines Jugendlichen, der von einem zufrieden grinsenden SA-Mann gezwungen wird, das Wort „Jud” an eine Hauswand zu schreiben, ist eines dieser erschütternden Bilddokumente der Ausstellung.

Wer konnte, wagte die Flucht. „Nacht über Österreich” zeichnet anhand einzigartiger Originaldokumente 15 exemplarische Wege ins Exil detailliert nach. Elazar Benyoëtz, Käthe Braun-Prager, Dol und Robert Dauber, Albert Drach, Bruno Frei, Egon Friedell, Erich Fried, Hans Gál, Erich Wolfgang Korngold, Robert Neumann, Hertha Pauli, Adolf Placzek, Soshana, Egon Wellesz und Berta Zuckerkandl – diese jüdischen MusikerInnen, SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen stehen für die vielen anderen, die fliehen konnten, deren Einzelschicksale aber kaum mehr rekonstruierbar sind.

Für alle von ihnen war der „Anschluss” ein traumatisches Erlebnis. „Kalt wurde es mir, und ich bekam furchtbare Angst”, erinnert sich die damals elfjährige Soshana an den Anblick Hitlers und der fanatisierten Massen. Diese Kälte sollte sie ein Leben lang begleiten: Auf ihrer Flucht und späteren Reisen hatte sie stets mehrere Wolldecken bei sich. Ihre erhalten gebliebenen Kinderzeichnungen von 1938 zeigen auf erschreckende Weise, wie die Angst vor Hitler ihre Kindheit bestimmte.

Flucht bedeutete Rettung, aber auch Verlust: von Eigentum, Heimat und von geliebten Menschen. Entsetzt schreibt der 17-jährige Erich Fried 1938 im Londoner Exil in das Familienalbum: „Vater tot, Mutter im Kerker und ich im nebligen England / Großmama blind in Wien, rechtlos, arm, alt, gejagt / Seht, das ist Hitlers Werk, das ist das neue Jahrhundert”. Frieds Albumeintrag ist in „Nacht über Österreich” ebenso nachzulesen wie der naiv anmutende Tagebucheintrag des späteren Architekturhistorikers Adolf Placzek, der kurz vor dem „Anschluss” noch mit seiner Freundin den Opernball besuchte: „Nur einen Wunsch: diese Frau zu heiraten” – erst bei den Vorbereitungen zu seiner Flucht wird ihm bewusst, dass er sie nie wiedersehen wird. Die ausgestellten Opernballkarten hat er sein Leben lang aufbewahrt.

Wer flüchtete, begab sich auf eine lebensgefährliche Reise ins Ungewisse. Außergewöhnliche Dokumente der Ausstellung belegen dies auf eindrückliche Weise: wie der Fluchtplan der Schauspielerin Hertha Pauli, die den Nazis auf Schmuggelrouten über die Pyrenäen entkommen konnte; oder der Heimatschein des Schriftstellers Albert Drach, der für sein Überleben mitentscheidend war. Drach gelangte über die Stationen Split, Triest und Paris 1939 nach Nizza. 1942 war er im Lager Rivesaltes interniert. „Hier werden”, so schrieb er später, „alle Krematoriumsanwärter gesammelt, sondiert und exportiert.” Um nicht deportiert zu werden, ging Drach in die Offensive: Er sei gar kein Jude, sondern Katholik. Zum Beweis legt er einen Heimatschein der Gemeinde Wien vor, auf dem sich die Abkürzung „I.K.G.” für „Israelitische Kultusgemeinde” findet. Drach übersetzte sie mit „Im Katholischen Glauben” – und wurde letztlich aus dem Lager entlassen. Unter aberwitzigen Umständen, als Eislauflehrer, Pilzesammler und Übersetzer überlebte er den Krieg in der südfranzösischen Provinz.

Von den abenteuerlichen Wendungen einer Flucht berichtet auch das eindrucksvollste Dokument der Ausstellung: das handschriftlich verfasste „Fluchttagebuch” der Wiener Journalistin und Salonière Berta Zuckerkandl. Es wurde der Österreichischen Nationalbibliothek erst vor Kurzem von Zuckerkandls in den USA lebendem Enkel Emile übergeben und wird nun zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Auf 32 Manuskriptseiten beschreibt die 76-jährige Zuckerkandl eindringlich und berührend die Stadien und Strapazen ihrer Flucht, die sie schließlich ins nordafrikanische Algier führte.

Doch nicht allen gelang die Flucht. Dies zeigt ein weiteres, beklemmendes Original, das im die Ausstellung begleitenden Katalog zu finden ist. In behördlicher Maschinenschrift notierte ein SS-Hauptsturmführer am 23. Mai 1938: „Friedell, Jude, hat in Wien Selbstmord begangen.” Der Schriftsteller, den Berta Zuckerkandl als ihren besten Freund bezeichnete, hörte an der Türschwelle die Frage, ob hier der Jude Friedell wohne – und stürzte sich aus dem Fenster. Friedells Abreißkalender mit seinem Todesdatum erinnert in „Nacht über Österreich” an diesen tragischen Tag.

Heldenplatz revisited: Ernst Jandl und Thomas Bernhard

Durch Flucht, Vertreibung und Ermordung Tausender vor allem jüdischer Bürgerinnen und Bürger erlitt Österreich einen kulturellen Rückschlag, von dem es sich nie wieder ganz erholen konnte. Gleichzeitig wurden der begeisterte Empfang, der Hitler im März 1938 von allzuvielen bereitet wurde, sowie die Mitschuld von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus über Jahrzehnte verdrängt.

Es waren vor allem die österreichischen SchriftstellerInnen, die sich mit diesem dunklen Kapitel in der Geschichte des Landes und dem als bequeme Entschuldigung vorgeschobenen „Opfermythos” auseinandergesetzt haben. „Nacht über Österreich” lässt zwei der bekanntesten Kritiker einer fehlenden Geschichtsaufarbeitung zu Wort kommen: Ernst Jandl und Thomas Bernhard.

Der Dichter Ernst Jandl, im März 1938 selbst Ohrenzeuge des Chors fanatischer Stimmen, antwortete in seinem berühmtesten Gedicht „wien : heldenplatz” auf die hysterischen Verkündigungen des Führers mit den Mitteln experimenteller Poesie. Jandl spricht von einer „aufs bluten feilzer stimme” und einem „hünig sprenken stimmstummel”. Er ist in der Ausstellung zu hören und zu sehen, wie er sein Gedicht in einem TV-Beitrag vorträgt und kommentiert.

Ebenfalls zu sehen: Ausschnitte aus Thomas Bernhards Drama „Heldenplatz”, das bei seiner Uraufführung 1988 im Wiener Burgtheater einen in der österreichischen Theatergeschichte einzigartigen Skandal auslöste. Das Stück über einen jüdischen Gelehrten, der kurz vor seiner neuerlichen Emigration Selbstmord begeht, konnte nur unter Polizeischutz aufgeführt werden und rechtsgerichtete Demonstranten luden einen Misthaufen vor der ausverkauften Burg ab.

Doch auch viele der vertriebenen KünstlerInnen meldeten sich zu Wort. Die Malerin Soshana fertigte Ende der 1980er Jahre Collagen an, in die sie, beeinflusst von der Waldheim-Affäre, nationalsozialistische Propagandatexte einbaute. Käthe Braun-Prager und Robert Neumann verarbeiteten ihre Emigration mehrfach literarisch, Albert Drach sorgte 1966 mit seinem autobiografischen Roman „Unsentimentale Reise” für Aufsehen, Adolf Placzek schrieb in „Wiener Gespenster” über das Fremdsein im Exil und Hertha Paulis „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz” gilt als eines der besten Bücher über den „Anschluss” Österreichs.

Wer heute, 75 Jahre nach Hitlers Rede, den Eingang der Österreichischen Nationalbibliothek am Heldenplatz betritt, kann hier diese zentralen Werke der Exilliteratur nachlesen. „Nacht über Österreich” macht die Lebensgeschichten und Schicksale dahinter wieder lebendig – und erinnert die Gegenwart daran, sie nicht zu vergessen.

Foto: Antisemitische Ausschreitungen in Wien/Foto: Albert Hilscher, März 1938

Pressemeldung ÖNB: http://www.onb.ac.at/ausstellungen/nacht/index.htm

 

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