Robert Darnton: Die Bibliothek im Informationszeitalter

Gerade in heise online erschienen:

Die Bibliothek im Informationszeitalter

Robert Darnton (17.12.2009)

6000 Jahre Schrift

Information wächst explosionsartig, und die Informationstechnologie ändert sich so rasch, dass wir vor einem grundsätzlichen Problem stehen: Wie ist in dieser neuen Landschaft Orientierung möglich? Was wird etwa aus wissenschaftlichen Bibliotheken angesichts technischer Wunderwerke wie Google? Wie verhält man sich sinnvoll? Ich habe auf diese Frage keine Antwort, aber ich schlage als Zugang zu dieser Frage einen Blick in die Geschichte der Informationsübermittlung vor. Stark vereinfacht könnte man sagen, dass es vier grundlegende informationstechnologische Veränderungen gegeben hat, seit die Menschen zu sprechen lernten.

Plädoyer für die wissenschaftliche Bibliothek als Mittelpunkt der Universität

Mir ist freilich klar, dass Überlegungen zu Haptik und Geruch meinem Argument widersprechen zu scheinen. Den meisten Lesern geht es um den Text, nicht um das physische Medium, in dem er eingebettet ist. Wenn ich mich meiner Faszination für Druck und Papier hingebe, dann kann man mir leicht vorwerfen, ich sei zu romantisch oder verhielte mich wie ein altmodischer, extrem Buch-verliebter Gelehrter, der in seinem Zimmer mit seltenen Büchern allein gelassen werden will. Ich bekenne mich schuldig. Ich liebe Lesesäle für seltene Bücher, auch jene, wo man Handschuhe überstreift, bevor man ihre Schätze berührt. Lesesäle für seltene Bücher sind ein wichtiger Bestandteil von wissenschaftlichen Bibliotheken, und zwar jener Bestandteil, zu dem Google am wenigsten Zugang hat. Aber Bibliotheken haben auch Plätze für gewöhnliche Leser, wo diese sich in Bücher vertiefen können – ruhige, angenehme Orte, wo der Kodex in seiner ganzen Individualität erkundet werden kann.

Das stärkste Argument für das altmodische Buch ist seine Wirkungskraft für gewöhnliche Leser. Dank Google können Wissenschaftler Millionen von Webseiten und elektronischen Texten durchsuchen, navigieren, auswerten, durchsuchen, verlinken, usw. (die Wörter sind je nach Technologie unterschiedlich). Gleichzeitig kann jeder, der etwas Gutes zum Lesen sucht, zu einer gedruckten Ausgabe greifen, sie entspannt durchblättern, und dabei den Zauber des auf Papier gedruckten Wortes erleben. Ein Computer-Monitor erzeugt nie das gleiche Gefühl der Zufriedenheit wie eine gedruckte Seite. Doch das Internet liefert Daten, die in einen klassischen Kodex umgeformt werden können. Durch das Internet ist Print on demand schon zu einer boomenden Branche geworden, und in Zukunft wird es wohl Bücher geben, die man aus Geldautomat-ähnlichen Maschinen ziehen kann: man loggt ein, bestellt elektronisch, und ein gedrucktes und gebundenes Buch kommt heraus. Vielleicht wird der Text auf dem Monitor eines Handheld das Auge so ansprechen, wie die Seite eines vor 2000 Jahren hergestellten Kodex.

Bis dahin sage ich: schützen wir die Bibliotheken. Füllen wir sie mit Druckwerken. Verbessern wir die Lesesäle. Aber stellen wir uns Bibliotheken nicht wie Lagerhallen oder Museen vor. Die meisten wissenschaftlichen Bibliotheken arbeiten zwar mit Büchern, doch sie sind auch Nervenzentren für elektronische Signale. Sie erwerben Datensätze, pflegen digitale Bestände, ermöglichen den Zugang zu elektronischen Zeitschriften und organisieren Informationssysteme, die tief in Forschungslabors und Studierzimmer hineinreichen. Viele dieser Bibliotheken teilen ihren geistigen Reichtum mit dem Rest der Welt, indem sie es Google ermöglichen, ihre gedruckten Bestände zu digitalisieren.

Ich sage also auch: lang lebe Google, aber erwarten wir uns nicht, dass es lange genug leben wird, um das altehrwürdige Gebäude mit den korinthischen Säulen zu ersetzen. Als Zitadelle des Lernens und als Plattform für Internet-Abenteuer verdient es die wissenschaftliche Bibliothek immer noch, der Mittelpunkt der Universität zu sein, der die Vergangenheit erhält und Energie für die Zukunft sammelt.

Der ganze Text unter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31742/1.html

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