Ein gemeinsames Papier der IFLA mit 17 anderen Organisationen, welches am 18.07.2012 im Rahmen einer Sitzung des Ständigen Ausschusses für Urheber- und verwandte Rechte der WIPO (Weltorganisation für geistiges Eigentum) vorgelegt wurde:
Stellungnahme der Zivilgesellschaft zum Thema Ausnahmen und Einschränkungen für den Bereich Bildung
24. WIPO-Sitzung des Ständigen Ausschusses zu Copyright und verwandten Rechten
Genf, 16.-24. Juli 2012
Am Montag, dem 16. Juli 2012, wurde die 24. Sitzung des Ständigen Ausschusses zu
Urheberrecht und verwandten Rechten (SCCR) der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Genf eröffnet [1]. Während der kommenden zehn Tag werden 185 WIPOMitgliedsländer flexible Ausnahmen des Urheberrechts für seh- und lesebehinderte Menschen, für Bibliotheken und Archive und für die Bereiche Bildung und Forschung diskutieren [2].
Bildung sollte allen ohne räumliche, zeitliche oder kostenabhängige Einschränkungen frei zugänglich sein. Digitale Technologien, vom tragbaren Computer, über Mobiltelefone bis hin zu Tablets, werden als wichtige Lehrmittel in vielen Ländern, darunter Südkorea, Nigeria, Brasilien und die USA, eingesetzt. Lehrmaterialen und folglich auch deren Absatzmarkt existieren zunehmend in digitaler Form. Entscheidungsträger müssen diesen Trend bei der Entwicklung von Richtlinien bezüglich Ausnahmen und Einschränkungen des Urheberrechts auf für zukünftige Generationen und das digitale Zeitalter angemessene Weise berücksichtigen.
Aufgrund des zunehmenden Einsatzes von Informations- und Kommunikationstechnologien im Klassenzimmer und in Bibliotheken und Archiven müssen Lehrern, Lernenden, Forschern, Bibliothekaren und Archivaren Rechte gegeben werden, die es ihnen erlauben, Lehrmaterialien zu erschließen, zu nutzen, zu bearbeiten, mithilfe von Text-Mining-Software zu analysieren, auszutauschen und gemeinsam zu erarbeiten [3]. Ähnliche Rechte müssen aufgrund der wachsenden Bedeutung des E-Lernens, der Online-Kommunikation und des zunehmenden Austauschs von Lehrmaterialen und sonstigen Information ohne Rücksicht auf geographische oder institutionelle Grenzen auch über das Klassenzimmer und die Bibliothek oder das Archiv hinaus garantiert sein.
Das internationale Urheberrechtssystem hat die Notwendigkeit von Ausnahmen und
Einschränkungen von Anfang an erkannt. Ohne diese Ausnahmen wäre das Urheberrechtssystem nicht in der Lage, sein grundlegendes Ziel, Schöpfergeist und Innovation zum Nutzen der gesamten Menschheit zu fördern, zu erreichen.
Internationale Harmonisierungsbestrebungen haben sich bisher jedoch hauptsächlich auf eine Seite der Medaille konzentriert: die Rechte der Autoren und Rechteinhaber. Wenn es tatsächlich um ein ausgewogenes Verhältnis gehen soll, dann ist es unerlässlich, dass die Rechte derjenigen, die urheberrechtlich geschützte Werke für Bildungs- und Forschungszwecke und zur Gewährleistung von Informationszugang nutzen möchten, gleichberechtigt behandelt werden. Nur so kann es dem Urheberrechtssystem gelingen, sich für das Wohl einer breiteren Öffentlichkeit zu engagieren. Ausnahmen und Einschränkungen bilden die Grundlage für einen garantierten Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung: sowohl durch offizielle Einrichtungen als auch im Rahmen inoffizieller Lernumfelder und in digitalen und nicht-digitalen Formaten für alle Lernenden, einschließlich derjenigen mit Behinderungen. Bibliotheken bilden einen wichtigen Bestandteil des Bildungs- und Forschungsprozesses und sind häufig in Bildungseinrichtungen integriert. Ausnahmen und Einschränkungen ermöglichen es Bibliotheken, ihre Funktion als öffentliche Dienstleistungseinrichtungen bei der Förderung der Bedürfnisse von Forschern, Lehrern, Studierenden und Lernenden zu erfüllen.
Aus all diesen Gründen bitten wir die WIPO-Mitgliedsländer dringend, die Annahme und die Förderung unbefristeter Ausnahmen und Einschränkungen für den Bildungsbereich, die im digitalen Umfeld angemessen sind, voranzutreiben.
Vor allem bitten wir die Mitgliederstaaten auf dieser 24. Sitzung des SCCR der WIPO, sich
intensiv an der Diskussion zu beteiligen und gemeinsam Dokumente zu erarbeiten und damit einen ersten Schritt in Richtung eines internationalen Hilfsmittels in diesem Bereich zu machen.
Daher sollten die Mitgliederstaaten die folgenden Empfehlungen als Möglichkeit, das öffentliche Interesse zu fördern, berücksichtigen:
- Keine Auferlegung administrativer, ziviler oder strafrechtlicher Verantwortung für die Verbreitung technischer Schutzmaßnahmen (TPMs), wenn diese angewendet werden, um auf gemeinfreie oder frei lizenzierte Werke zuzugreifen oder auf Werke, die gemäß nationalen Urheberrechtsausnahmen und –beschränkungen oder sonstigen nationalen Rechtsvorschriften zugelassen sind. Die nationalen Rechtsvorschriften müssen dafür sorgen, dass TPMs und Abkommen bestehende Ausnahmen und Einschränkungen nicht außer Kraft setzen oder den Zugang zu gemeinfreien Materialen eingrenzen [4]. Vor allem sollten die Mitglieder Bildungseinrichtungen, Bibliotheken und Archiven das ausdrückliche Recht einräumen, TPMs zu umgehen, um ihren Nutzern, einschließlich Studierenden, Lehrern, Forschern und Bibliothekaren, die Möglichkeit zu geben, Werke unter Einhaltung des nationalen Urheberrechts zu nutzen [5].
- Dafür sorgen, dass der Drei-Schritte-Prozess nicht zu eng ausgelegt wird oder in internationalen Handelsabkommen und –vereinbarungen im Zusammenhang mit Ausnahmen und Einschränkungen zum Einsatz kommt, die außerhalb des Anwendungsbereichs dieses Tests liegen [6]. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass Ausnahmen, die nicht in den Anwendungsbereich des Drei-Schritte-Verfahrens fallen, weiterhin bestehen [7]. Bei der Anwendung des Drei-Schritte-Tests sollte beachtet werden, dass dieser auch im Falle von befristeten Einschränkungen und Ausnahmen, etwa solcher im Zusammenhang mit Fair-Practicebzw. Fair-Use-Bestimmungen, gilt. In Zeiten rascher technischer Entwicklung eignen sich zweckgebundene Ausnahmen häufig nur schlecht für einen ein angemessenes Gleichgewicht. Ausnahmen müssen zukünftige Entwicklungen berücksichtigen, um sinnvoll zu sein.
- Dafür sorgen, dass Bibliotheken und Archive, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie sonstige Einrichtungen des öffentlichen Interesses nur bedingt haftpflichtig sind, sofern dies im Einklang mit ihrer das Interesse der Öffentlichkeit vertretenden Funktion steht. Vor allem muss sichergestellt werden, dass die Nutzer dieser Einrichtungen weder haftpflichtig sind noch zu Schadensersatzzahlungen herangezogen werden können.
- Die Reproduktion, Digitalisierung, Übersetzung, Vorführung, Veröffentlichung und Verbreitung von nicht mehr lieferbaren Werken für Bildungs- und Forschungszwecke genehmigen.
- In Anbetracht der Mängel des Anhangs der Berner Übereinkunft zum Thema Ausnahmeregelungen für Entwicklungsländer [8] weisen wir vor allem auf die Notwendigkeit hin, neue Mechanismen zu entwickeln, die auf effektivere Weise als bisher das Ziel fördern, in den Entwicklungsländern einen kostengünstigen Zugang zu Werken zu schaffen [9]. Die obligatorischen Lizenzvereinbarungen des Berner Anhangs sind komplex, eng gefasst und nicht auf die Möglichkeiten eines digitalen Umfelds abgestimmt. Sie gelten daher als undurchführbar und haben nur geringen, wenn nicht sogar gar keinen Wert für die Entwicklungsländer.
- Die Anerkennung öffentlich finanzierter Werke als öffentliche Güter fördern, die von der Öffentlichkeit verbreitet, vervielfältigt und genutzt werden dürfen.
- Erkennen, dass der Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken für Bildungs- und Forschungszwecke durch die Stärkung bereits bestehender Ausnahmen und Einschränkungen vereinfacht werden muss. Diese müssen darüber hinaus die Nutzung digitaler Werke und deren Nutzung außerhalb offizieller Bildungseinrichtungen miteinbeziehen.
- Mechanismen schaffen, die die Nutzung verwaister Werke durch die Öffentlichkeit, durch Lernende, Pädagogen, Bibliothekare und Archivare fördern. Diese Mechanismen könnten aus Urheberrechtseinschränkungen und –ausnahmen oder aus Beschränkungen von Vorgaben, die Bildungseinrichtungen oder Bibliotheken auferlegt werden, oder aus nicht-obligatorischen, flexiblen Lizenzabkommen bestehen.
- Dafür sorgen, dass die Freiheit von Forschung hinsichtlich einer großflächigen Auswertung von Texten mit Hilfe von Text-Mining-Programmen und sonstigen nicht-verbrauchenden analytischen Nutzungsmöglichkeiten von Texten und Daten für Forschungszwecke gewährleistet ist.
- Den Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken für Menschen mit Behinderungen durch einen robusten Rahmen von Ausnahmen und Einschränkungen, der die Bedeutung eines grenzübergreifenden Austauschs von Vervielfältigungsstücken von Werken, die innerhalb dieses Ausnahmesystems geschaffen wurden, fördern. Wir setzen uns gegen die Schaffung von zusätzlich belastenden Maßnahmen ein.
- Anerkennen, dass die Schaffung neuer Arten von Rechten, wie sie im Zusammenhang mit dem Schutz von Rundfunksendern vorgeschlagen wurden, die Anstrengungen zur Schaffung von Zugang zu Werken untergräbt.
- Sicherstellen, dass die internationale Ausschöpfung für die Anschaffung von gedruckten und digitalen Werken, die von Bildungseinrichtungen, Bibliotheken und Archiven benötigt werden, gilt [10].
[1] http://www.wipo.int/meetings/en/topic.jsp?group_id=62
[2] Unter den Begriff Forschung fallen auch viele Aktivitäten, die nicht auf Erkenntnisgewinn oder auf schlussfolgernde Ergebnisse abzielen. Forschung kann stückweise, inoffiziell, explorativ oder konfirmativ sein und kann aus persönlichem Interesse ohne besonderen Zweck unternommen werden. Tatsächlich kann Forschung Erkenntnisgewinn zum Ziel haben; dies ist jedoch nur ein Aspekt und nicht der wichtigste im Kontext eines Definitionsversuchs.
http://www.michaelgeist.ca/content/view/6588/
[3] Die UNESCO engagiert sich seit kurzem —in einer Erklärung vom Juni 2012—für die freie Lizenzierung von Lehrmaterialen, die durch öffentliche Finanzierung entstanden sind.
http://www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CI/CI/pdf/Events/Paris%20OER%20Declaration_01.pdf
[4] Rechteinhaber nutzen zur Kontrolle des Zugangs auf digitale Bücher und Materialen neben vertraglichen Vereinbarungen TPMs in zunehmendem Maße. TPMs sind im Zusammenhang mit Nutzungen anzuwenden, die außerhalb exklusiver Urheberrechtsbestimmungen erfolgen (etwa das Lesen eines Buches). Sie beschränken die Nutzungen von digitalen Werken, die unter anderen Umständen nach den nationalen urheberrechtlichen Ausnahmen und Beschränkungen, etwa der Erschöpfung, genehmigt wären. Nationale Gesetze und Regelungen müssen sicherstellen, dass TPMs und Abkommen nicht dafür benutzt werden können, das traditionelle Gleichgewicht im Urheberrecht zu verändern. Siehe dazu beispielsweise eine Analyse der TPMRisiken von EFF.org: https://www.eff.org/node/58380, https://www.eff.org/deeplinks/2010/03/unintendedconsequences-12-years-under-dmca and https://www.eff.org/issues/dmca-rulemaking
[5] Neuseeland zum Beispiel hat eine solche Regelung eingeführt. Siehe
http://www.legislation.govt.nz/act/public/1994/0143/latest/DLM1705887.html “When rights of issuer of TPM work do not apply” [Ausnahmen von den Rechten der TPM-Auftraggeber]
[6] http://www.ip.mpg.de/de/pub/aktuelles/declaration-threesteptest.cfm
[7] z.B. die Berner Übereinkunft, Artikel 2bis 10, 10bis, 11bis(2), 13, der Anhang
zu Ausnahmeregelungen für Entwicklungsländer, für die Römische Übereinkunft Artikel 15, und für TRIPS Artikel 6, 40, 44.2 und 66.
[8] http://www.wipo.int/treaties/en/ip/berne/trtdocs_wo001.html
[9] Auf diese Weise würde der Zugang zu Wissen für alle gefördert werden und garantiert, dass die Menschen in den Entwicklungsländern keinen Einschränkungen hinsichtlich Bildung und Entwicklung ausgesetzt oder vom Zugang zu kulturellen Werken ausgeschlossen sind.
[10] Gemäß TRIPS Artikel 6 und WCT 6 (2). Nichts in diesem Vertrag berührt die Freiheit der Vertragspartner, gegebenenfalls Konditionen zu bestimmen, zu denen die Erschöpfung des Rechts in (1) nach dem Erstverkauf oder der Eigentumsübertragung des Originalwerks oder eines Vervielfältigungsstücks mit Genehmigung des Autors gilt.
http://www.wipo.int/treaties/en/ip/wct/trtdocs_wo033.html#P62_6959
(Ehrenamtlich aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Maria Reinhard, Juli 2012)