Die Österreichische Nationalbibliothek übernahm vor kurzem den Vorlass von Ruth Klüger und den Nachlass von Frederic Morton. Beide Bestände versammeln wichtiges Quellenmaterial zur österreichischen Exil-Literatur: Der 15-jährige Morton emigrierte 1939 mit seiner Familie von Wien nach New York, die ebenfalls in Wien geborene Ruth Klüger überlebte mit ihrer Mutter mehrere NS-Konzentrationslager und emigrierte 1947 in die USA. Die insgesamt 20 Transportkisten werden derzeit im Literaturarchiv für die Benützung erschlossen und sind ab Ende 2018 über den Onlinekatalog der Bibliothek recherchierbar. Generaldirektorin Dr. Johanna Rachinger: „Die Österreichische Nationalbibliothek verwahrt in ihrem Literaturarchiv rund 70 Vor- und Nachlässe von Exil-Autorinnen und -Autoren; sie ist damit für das Thema der Exil-Literatur die bedeutendste Institution des Landes. Ich freue mich sehr, dass im Gedenkjahr 2018 diese wichtigen Bestände an unser Haus gekommen sind und in Zukunft für die Forschung zur Verfügung stehen. Sie dokumentieren zwei sehr unterschiedliche Emigrationsgeschichten, zwei sehr bemerkenswerte internationale Karrieren.“
Der Vorlass Ruth Klüger
Ruth Klüger wurde in den USA zu einer der wichtigsten feministischen Literaturwissenschafterinnen, die erst spät als Autorin bekannt wurde. Ihr autobiografisches Werk „weiter leben. Eine Jugend“ erschien 1992 auf Deutsch und wurde ein Bestseller. Das aus feministischer Perspektive geschriebene Buch betont, dass auch weibliche Holocaust-Opfer ein Recht auf Erinnerung haben. Es machte seine Verfasserin berühmt, wurde später in Wien im Rahmen der Gratisbuch-Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ aufgelegt und steht heute neben den bedeutenden literarischen Zeugnissen des Holocausts von männlichen Kollegen wie Primo Levi und Imre Kértesz.
Ihr Vorlass gibt Einblicke in den Lebensweg einer Frau und Überlebenden, die zwei Söhne großzog, daneben studierte, an mehreren amerikanischen und deutschen Universitäten lehrte und zahlreiche Essays, Rezensionen, aber auch Gedichte schrieb. Die insgesamt elf Transportkisten versammeln zahlreiche Dokumente und Fotos zur Familiengeschichte Klügers, darunter berührende Aufnahmen des Kindes in Wien vor der Deportation. Zahlreiche Menschen haben Briefe an Ruth Klüger geschrieben, ihre Zustimmung, manchmal auch ihre Ablehnung ausgedrückt oder auch eigene Erfahrungen mitgeteilt. Diese „Fanpost“ ist ebenso Teil der übernommenen Materialien wie Übersetzungen und zahlreiche internationale Presseberichte zur Autorin und ihrem Werk. Wie die bloße Existenz einer KZ-Überlebenden verstörend und provozierend wirken kann, zeigt eine aggressiv formulierte Notiz im Vorlass, mit der sich ein Kollege darüber beschwert, während der Sommermonate die KZ-Nummer auf Klügers Oberarm sehen zu müssen. Sie hat diese Nummer später entfernen lassen.
Der Nachlass Frederic Morton
Frederic Morton gelang 1962 mit „The Rothschilds“ der große Durchbruch. Das Buch wurde in mehreren Ländern zum Bestseller und diente als Vorlage für ein ebenfalls äußerst erfolgreiches Broadway-Musical. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen mit besonderem Österreich-Bezug, darunter „The Forever Street“. Mit diesem 1986 unter dem Titel „Ewigkeitsgasse“ auf Deutsch erschienenen Roman leitete Mortons Geburtsstadt Wien 2002 ihre große Gratisbuch-Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ ein. Der Roman ist eine großangelegte, autobiografisch grundierte jüdische Familienchronik von den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1938.
Der Nachlass Frederic Mortons ist eine großzügige Schenkung seiner Tochter Rebecca Morton aus New York und umfasst neun Transportkisten. Diese beinhalten viele Originalskripte und umfangreiche Recherchematerialien zu verschiedenen Werken, insbesondere zu den beiden Romanen „Die Rothschilds“ und „Ewigkeitsgasse“. Groß ist die Zahl an Essays, Kurzgeschichten und Artikeln für bedeutende amerikanische Magazine wie den „New Yorker“, „Vanity Fair“, „Harper’s Bazaar“, den „Playboy“, aber auch die „New York Times“. Die Korrespondenz belegt Mortons Kontakte zu herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit, so zu den US-amerikanischen Schriftstellern Aldous Huxley, John Irving, Norman Mailer, Philip Roth, Upton Sinclair und Elie Wiesel. Dazu kommen Briefe von deutschsprachigen Schriftstellern, unter ihnen Heimito von Doderer und Thomas Mann. Mortons Verbindung mit dem amerikanischen Showbusiness belegen Korrespondenzen mit Marlon Brando und Vanessa Redgrave; schillernde Briefpartner aus der amerikanischen High Society und Politik sind Jacqueline Kennedy Onassis und Robert Kennedy.
Neben den überlieferten Materialien, die die Geschichte der Vertreibung im Allgemeinen und die Geschichte der Familie Morton im Speziellen dokumentieren, gewähren die zahlreichen Tagebücher aus den 1940er- bis 1980er-Jahren sehr persönliche Einblicke zu Frederic Morton, Amerika und seinem Verhältnis zu Wien und Österreich.
Zur Biografie Ruth Klügers
Die Literaturwissenschafterin und Schriftstellerin Ruth Klüger wurde am 30. Oktober 1931 als Tochter eines jüdischen Kinderarztes in Wien geboren. Ihr Vater und ihr Halbbruder, zu dem sie als Kind einen engen Kontakt hatte, fielen dem Holocaust zum Opfer. Ruth Klüger wurde 1942 im Alter von elf Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert. Es folgten Internierungen in Auschwitz-Birkenau und Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen, von wo ihr 1945 die Flucht gelang. Nach dem Krieg legte sie im bayrischen Straubing ihr Abitur ab und begann in Regensburg Germanistik zu studieren. 1947 emigrierte Ruth Klüger mit ihrer Mutter in die USA, studierte Bibliothekswissenschaften und Germanistik und wurde zu einer der wichtigsten feministischen Literaturwissenschafterinnen. Mit ihrem in viele Sprachen übersetzten autobiografischen Buch „weiter leben“ wurde sie zudem auch als Autorin bekannt.
Zur Biografie Frederic Mortons
Frederic Morton wurde am 5. Oktober 1924 als Fritz Mandelbaum in Wien geboren. Sein Vater war ein jüdischer Metallwaren-Fabrikant, der mit seiner Familie 1939 nach England und 1940 schließlich nach New York emigrierte. Nach verschiedenen Tätigkeiten als Bäcker und später als Lehrer für englische Literatur wurde Morton zu einem erfolgreichen Essayisten und Romancier. Seine journalistischen und literarischen Beiträge erschienen in Zeitungen und in großen Magazinen wie „New York Times“, „Esquire“, „Playboy“ und „The Atlantic“. Der Emigrant aus Österreich wurde vor allem mit seiner Familienchronik „The Rothschilds“ zu einem amerikanischen Erfolgsautor. Morton lebte seit seiner Emigration in New York; er starb am 20. April 2015 bei einem Besuch in seiner Heimatstadt Wien.
Zum Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek
Die Literatur, die jene AutorInnen verfassten, die vor allem zwischen 1938 und 1945 aus ihrer Heimat vertrieben wurden, rückte erst ab den späten 1970er-Jahren in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Entsprechend hat in Österreich auch der Erwerb und Erhalt von literarischen Exil-Nachlässen ein jahrzehntelanges Schattendasein geführt: Die Nachlässe zahlreicher bedeutender österreichischer Exil-AutorInnen befinden sich deshalb heute in deutschen, englischen oder amerikanischen Institutionen.
1996 nahm das » Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothekseinen Vollbetrieb auf und etablierte sich rasch als eine der wichtigsten einschlägigen Institutionen im deutschsprachigen Raum. Von Beginn an lag ein besonderer Schwerpunkt der Sammeltätigkeit auf der Exil-Literatur. Heute beherbergt das Literaturarchiv rund 70 Vor- und Nachlässe von Exil-AutorInnen, darunter Bestände von Manès Sperber, Ödön von Horváth, Erich Fried, Theodor Kramer, Hilde Spiel, Günther Anders, Gerhard Bronner, Albert Drach, Ernst Fischer, Robert Musil oder Berta Zuckerkandl.
Dazu auch:
https://derstandard.at/2000080244905/Nationalbibliothek-bekommt-Morton-Nachlass-und-Klueger-Vorlass