Der Komponist und Kapellmeister Carl Kratzl (1852–1904), bekannt vor allem durch sein Lied „Das Glück is a Vogerl„, erhielt seine musikalische Ausbildung am k. k. Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo er u. a. Schüler Anton Bruckners war. Als Abschlussprüfung im Fach Kontrapunkt stellte Bruckner Kratzl die Aufgabe, eine dreistimmige Fuge über ein Thema aus der Graner Festmesse von Franz Liszt zu schreiben, dessen Geburtstag sich am 22. Oktober 2011 zum 200. Mal jährt.
Die Prüfungsarbeit trägt in der rechten oberen Ecke des Blatts die eigenhändige Datierung „Vollendet den 23. Juni 1871 um ½ 1 Uhr Nachts“. Eine zweite Datierung am unteren Seitenrand, „Reingeschrieben den 25 May 1872.“, lässt vorerst Zweifel aufkommen, ob es sich bei dem Manuskript um das bei Bruckner eingereichte Original handelt. Für die Echtheit spricht jedoch der Umstand, dass der Notentext vor allem in den ersten Takten mit substanziellen Korrekturen versehen ist, das Manuskript also schon allein aus diesem Tatbestand heraus keineswegs Reinschriftcharakter aufweist. Dazu kommt noch, dass Kratzl gegen Ende der Komposition offenbar der Platz auf dem Notenpapier ausgegangen ist und er sich zu einer sehr gedrängten Schreibweise, ja sogar einer händischen Verlängerung der Notenlinien gezwungen sah, nur um schließlich für den letzten Takt doch noch ein neues System beginnen zu müssen. Insbesondere der bis an den rechten Blattrand heranreichende vorletzte Takt der Komposition ist recht unleserlich ausgefallen, was Kratzl bewogen haben mag, diesen und den Schlusstakt unterhalb des vorgedruckten Linienspiegels in einem handgezogenen System von Notenlinien nochmals sauber zu notieren.
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