Öffentlichen Abendvortrag im Rahmen der IMAFO-Summerschool ‚Mittelalterliche Handschriften‘ an der Abteilung Schrift- und Buchwesen:
Prof. Dr. Jürgen Wolf,
Mittelalterliche Bücher. Beobachtungen zu Genese und Schicksal volkssprachiger Handschriften in Mittelalter und Neuzeit.
Dienstag, 4. Juli 2023, 18:00 Uhr
Campus Akademie
Bäckerstraße 13, 1010 Wien
Erdgeschoß, Seminarraum 2
Einladung und Abstract als PDF
Herzliche Grüße,
Nach einer kurzen Skizze der Buchgeschichte ‚von der Rolle zum Kodex‘ samt Fragen des Beschreibmaterials und einem Blick auf frühmittelalterliche Palimpseste steht das volkssprachige Buch im Zentrum. Es geht darum, was diese Bücher in einer laikal-mündlich geprägten Gesellschaft überhaupt zu suchen haben, wer sie wo und wie macht, wie sie aussehen, was sie enthalten, wer sie nutzt und liest bzw. hört, wenn doch die Primärrezipienten fast immer Illiterati sind. Ihre Bücher sind unterschiedlich groß, dick, schön, manchmal prachtvoll; oft aber auch einfach, schmucklos, geradezu hässlich, reine Gebrauchsobjekte. Offensichtlich gibt es eine direkte Beziehung zwischen der Buch- und der Schriftgestalt auf der einen und den Inhalten auf der anderen Seite: Heilige Texte wie die Bibel oder die mittelhochdeutschen Reimweltchroniken genießen einen besonderen Status, sind quasi auratische Verehrungsobjekte. Als Folge verwenden Skriptorien und Auftraggeber höchste Sorgfalt auf die Erstellung entsprechender Kodizes. Profane Texte für den privaten Gebrauch – wie die von uns so geschätzten höfischen Epen und Artusromane, aber auch die pragmatische Literatur – sehen dagegen ganz anders, oft geradezu spektakulär ‚langweilig‘ aus. Diese mediale Bilanz (‚Buchkunst für Laien‘) lässt den Beobachter/die Beobachterin mit bisweilen irritierenden Fragen zurück. Warum etabliert sich im 13. Jh. eine geradezu exzessiv sich ausbreitende Schriftlichkeit in der laikalen Welt, obwohl man die Bücher dort nicht selbst herstellen, oft sogar noch nicht einmal selbst lesen kann. Dazu gehören auch ‚merkwürdige‘ Bücher, die wunderschön aussehen, aber höchst fehlerhafte Texte enthalten, dazu gehört eine in vielen volkssprachigen Texten überlieferte Doppelformel zu den Rezeptionsmodi dieser Bücher mit dem ‚schouwen‘ auf der einen und dem ‚horen lesen‘ auf der anderen Seite. In einem zweiten Teil wird davon berichtet, wie eben diese ‚schönen‘ Bücher in der Frühen Neuzeit in weit überwiegender Zahl ‚in den Müll‘ wandern, wie sie recycelt werden und wie unsere Makulaturforschung sie schlussendlich wieder aus dem Müll herausholt und in Datenbanken wie etwa handschriftencensus.de und manuscripta.at zu neuem Forschungsglanz erstrahlen lässt.