Ich habe zuvor im VÖBBLOG (->Zu Taschwer/Der Standard: „Radikalumbau in den Kathedralen des Wissens“) zum an sich guten Artikel von Klaus Taschwer zur Frage der aufgrund der Auswirkungen der Digitalisierung anstehenden Änderungen im Verlagsbereich usw. eine Anmerkung gesetzt, weil ich – und auch andere – den eigenartigen, am Schluss gesetzten Zusammenhang mit der Kritik am neuen § 42g UrhG nicht verstanden habe. Er passt überhaupt nicht zur Zielrichtung des Artikels, verschweigt wesentliche Details zum § 42g UrhG (wie die Vergütungspflicht) und führt beim schnellen Leser zu einem negativen Eindruck. Einer exakten Überprüfung kann dies aber nicht standhalten. Die folgenden Bemerkungen sind als Beitrag zur Versachlichung der Diskussion zu sehen.
Schauen wir uns noch einmal den neuen § 42g UrhG an:
Der § 42g UrhG bringt eine neue freie Werknutzung einer „Öffentliche[n] Zurverfügungstellung für Unterricht und Lehre“. Schon bislang war der Schul- und Unterrichtsgebrauch durch eine freie Werknutzung privilegiert ($ 42 Abs 6 UrhG). Erlaubt waren allerdings nur die Herstellung von Papierkopien „für Zwecke des Unterrichts beziehungsweise der Lehre in dem dadurch gerechtfertigten Umfang … für eine bestimmte Schulklasse beziehungsweise Lehrveranstaltung „, nicht jedoch die Nutzung von elektronischen Lernplattformen (wie Moodle u.a.) für das Hochladen von Scans von Aufsätzen in spezifisch für Lehrveranstaltungsbesucher geschützte Bereiche. Das Zurverfügungstellen von digitalisierter Literatur auf derartigen Lehrveranstaltungsintranets war anscheinend weithin üblich, aber eben – sofern es noch nicht gemeinfrei war – nicht durch diese freie „analoge“ Werknutzung rechtlich gedeckt. Die Novelle brachte nun eine aus dem Blickpunkt einer zeitgemäßen Rechts-, Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätspolitik sehr sinnvolle und weithin geforderte Erweiterung der bestehenden Regelungen auch auf derartige digitale Lernplattformen.
Die neue freie Werknutzung lautet:
Öffentliche Zurverfügungstellung für Unterricht und Lehre
§ 42g. (1) Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen dürfen für Zwecke des Unterrichts beziehungsweise der Lehre veröffentlichte Werke zur Veranschaulichung im Unterricht für einen bestimmt abgegrenzten Kreis von Unterrichtsteilnehmern beziehungsweise Lehrveranstaltungsteilnehmern vervielfältigen und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, soweit dies zu dem jeweiligen Zweck geboten und zur Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke gerechtfertigt ist.
(2) Abs. 1 gilt nicht für Werke, die ihrer Beschaffenheit und Bezeichnung nach zum Schul- oder Unterrichtsgebrauch bestimmt sind. Für Filmwerke gilt Abs. 1, wenn seit der Erstaufführung des Filmwerkes entweder im Inland oder in deutscher Sprache oder in einer Sprache einer in Österreich anerkannten Volksgruppe mindestens zwei Jahre vergangen sind.
(3) Für die Vervielfältigung und die öffentliche Zurverfügungstellung nach Abs. 1 steht dem Urheber ein Anspruch auf angemessene Vergütung zu. Solche Ansprüche können nur von Verwertungsgesellschaften geltend gemacht werden.
Meine Kritik am Standard-Artikel, insbesondere der Hinweis, dass natürlich Vergütungsansprüche für die Urheber normiert sind, kann man zuvor nachlesen (->Zu Taschwer/Der Standard: „Radikalumbau in den Kathedralen des Wissens“).
Nun sind mittlerweile unter dem Standard-Artikel mehrere Kommentare gepostet worden, unter anderem wurde – ohne mein Zutun – auch auf meine Äußerungen im VÖBBLOG hingewiesen. Klaus Taschwer hat sich daraufhin im Kommentarbereich erneut zu Wort gemeldet und seinen Artikel sanft, aber ohne Angabe weiterer Gründe, verteidigt. Er schreibt:
Dass sich die (Uni-)Bibliotheken über diese Novelle freuen, ist klar. Das sehr schwammige Gesetz kann für sie im Idealfall sogar neue Geschäftsfelder eröffnen. …
Die Universitätsbibliotheken freuen sich wirklich, aber vor allem für ihre Universitäten. Denn eigentlich betrifft der § 42g UrhG hauptsächlich die Universitäten. Endlich ist nämlich eine zeitgemäße Lehre auch rechtlich abgesichert! Die bisherige Situation war doch mittlerweile richtig absurd geworden, als man gerade im Unterricht durch veraltete Gesetze moderne Technologien verhinderte. Und das Heraufdräuen der Gefahr der neuen Geschäftsfelder, die Taschwer hier andeutet – Bitte: Welche sollen denn das sein? -, ist leider bloß die Wiedergabe perhorreszierender Äußerungen der lobbyierenden Verlagsbranche, die sich mit der neuen digitalen Medienwelt noch immer mangels der Entwicklung eigener neuer Geschäftsfelder schwer tut.
Abschließend verweist Taschwer noch auf ein Interview mit Michael Hagner in der heutigen Ausgabe des Standard, welches wirklich sehr lesenswert ist (im VÖBBLOG gerade angeteasert: Der Standard-Interview von Klaus Taschwer mit Michael Hagner: Das Buch, der „Goldstandard in den Geisteswissenschaften“). Seine Schlüsse aus dem Interview und die Anwendung auf die Diskussion betr. den § 42g UrhG stehen aber wieder auf reichlich tönernen Füßen. In keinem Detail des Interviews wird nämlich diese freie Werknutzung auch nur ansatzweise thematisiert. Hagner erklärt vielmehr, dass er an sich für Open Access sei, vor allem bei Aufsätzen, und von digitalsierten Inhalten im Netz viel Gewinn bei seinen Forschungen gezogen habe, aber bei Büchern eher dagegen sei und seine eigenen nicht ins Netz stellen wolle. Grund: der Aufwand, den Verlage mit der Drucklegung gehabt hätten. Sie wären zudem nicht besonders teuer, das könne man sich schon leisten. Und dann schließt er:
Jedenfalls gibt es kein Recht darauf, solche Bücher einfach irgendwo runterzuladen.
Auch sei er gegen den Zwang zu Open Access. Dies alles sind respektable Äußerungen. Über die Sinnhaftigkeit von freien Werknutzungen allgemein oder des Gebrauchs für Unterricht und Lehre gibt es kein Wort. Dazu hätte man – nicht nur in diesem Kontext – gern noch etwas erfahren. Taschwer meint trotzdem, aus dieser Äußerung den Schluss ziehen zu müssen, das „genau das … durch die Novelle zumindest für LVs möglich“ würde. Nun ja, das stimmt schon: wenn jemand eine Lehrveranstaltung anbietet, die etwa das neue Buch von Michael Hagner (Zur Sache des Buches, 2. Aufl., Göttingen 2015) zur Gänze unabdingbar als Lesestoff benötigt, dann wäre ein Digitalisat für die Dauer der und den Umfang der Lehrveranstaltung zulässig. Taschwer meint dann: „Und im digitalen Handapparat wird es, anders als die papierene Kopie, kaum bleiben…“.
Zu letzterem muss man dann doch ein wenig schmunzeln, denn: (1.) auch die papierene Kopie, die hier nicht so gefährlich erscheint, kann heutzutage – rechtswidrigerweise – leicht und schnell eingescannt und dann digital weiterverbreitet werden. Und (2.) die digitale Kopie kann ebenso – rechtswidrigerweise – leicht und schnell weiterverbreitet werden. Muss man, weil sich jemand uU möglicherweise rechtswidrig verhalten wird, diese Regelung verhindern wollen? Das ist doch sehr fraglich. Und um das Ganze noch weiter ad absdurdum zu führen: Dann müsste man auch Autobahnen und Autos verbieten, denn auf ersteren kann man möglicher- und rechtswidrigerweise mit letzteren über die erlaubten 130 km/h fahren …
Darüber hinaus ist das bekannte Problem um die Verbreitung digitaler Inhalte besonders schön an dem fraglichen Beispiel zu erkennen: Das lesenswerte Buch von Michael Hagner (Zur Sache des Buches, 2. Aufl., Göttingen 2015) gibt es zu einem wirklich wohlfeilen Preis nämlich nicht nur in analoger Form beim Verlag Wallstein, sondern auch in zwei digitalen Varianten ebendort zu kaufen: Einmal als PDF und einmal im EPUB-Format. Auch ein Käufer dieser digitalen Ausgaben kann diese rechtswidrigerweise verbreiten. Muss dann aber wohl mit den Rechtsfolgen auch leben. Und um den ganzen noch eins daraufzusetzen: Die digitale Version ist auch bereits im Bestand von Bibliotheken in Deutschland von Braunschweig bis Möckern-Friedensau und über die Goethe-Bibliotheken auch weltweit verfügbar, zum Runterladen der jeweiligen Benutzer nicht irgendwo, sondern in den genannten Bibliotheken! Es braucht also nicht die digitalen Handapparate österreichischer Lehrveranstaltungen. Und Hagner hat somit recht: es gibt zwar kein Recht darauf, solche Bücher einfach irgendwo runterzuladen, aber es gibt – und das wurde nicht erwähnt – jedenfalls auch ein Recht darauf, als Bibliotheksbenutzer der jeweiligen Bestandsbibliotheken diese auch elektronisch zu nutzen, wie es auch hierorts nun ein Recht darauf gibt, das Buch als elektronische Ressource in Unterricht und Lehre zu gebrauchen – immer gegen Vergütung selbstredend.
Der § 42g UrhG schädigt Verleger und Urheber jedenfalls nicht.
PS: Um der Ursache der oben geführten Disputation, die aus den Klagen nach dem Nichtkaufen von Büchern herrührt, noch eine positive Wendung zu geben, darf der Verfasser hier bekanntgeben, dass er von beiden Personen Bücher besitzt („Ich bin’s, euer Leser“!). Das von Klaus Taschwer jüngst erschienene Werk „Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert“ (Wien 2015) habe ich gleich mit Erscheinen gekauft und mit großem Gewinn gelesen und verwerten können. Und auch das hier genannte Werk von Michael Hagner, „Zur Sache des Buches“ (Göttingen 2015), habe ich bereits letztes Jahr erworben und auch schon angelesen, aber noch nicht gänzlich beendet. Ich kann beide Werke nur zum Kauf und zum Lesen empfehlen.