Pressemeldung ÖNB:
Der Nachlass Wendelin Schmidt-Denglers wird derzeit am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek für die Öffentlichkeit aufgearbeitet
Wendelin Schmidt-Dengler, der am 7. September 2008 völlig unerwartet starb, war über Jahrzehnte einer der wichtigsten Mentoren der österreichischen Literatur im Allgemeinen und der österreichischen Gegenwartsliteratur im Besonderen: als Leiter des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, als Professor für Germanistik an der Universität Wien, aber auch als streitbarer, bei Gelegenheit polemischer, immer differenziert argumentierender Publizist und Vortragender.
Generaldirektorin Dr. Johanna Rachinger freute sich im besonderen Maße, dass der umfangreiche und reichhaltige Nachlass dieser ganz besonderen und herausragenden Persönlichkeit des österreichischen Kulturlebens zur Gänze der Österreichischen Nationalbibliothek vermacht wurde.
“Wendelin Schmidt-Dengler war eine absolute Ausnahmeerscheinung. Er war eine Persönlichkeit, die vom ersten Augenblick an durch seine Eloquenz, seine sprühende Energie, seine Vielseitigkeit, sein ungeheures Wissen und nicht zuletzt auch durch seinen Witz beeindruckte. Seine Präsenz in der Öffentlichkeit war erstaunlich. Es gab keine Frage von Journalisten, auf die er nicht eine originelle, geistreiche und unterhaltsame Antwort fand. Er war die Personifikation der österreichischen Gegenwartsliteratur, so etwas wie ihr imaginärer Mittelpunkt, bei dem alle Fäden zusammenliefen, ihr Mentor und wohlwollender Kritiker“, so Rachinger über Wendelin Schmidt-Dengler.
Der Nachlass dokumentiert in eindrucksvoller Weise die Vielfalt der Arbeiten des Wissenschaftlers, Publizisten und Literaturvermittlers Schmidt-Dengler: enthalten sind die Unterlagen zu seinen Vorlesungen und Lehrveranstaltungen ab dem Jahr 1966, Materialien zu den zahlreichen Aufsätzen und Rezensionen, darunter die herausragenden Arbeiten zu Thomas Bernhard und Heimito von Doderer, weiters zahlreiche Gutachten zu literarischen und wissenschaftlichen Texten. Einen wichtigen Teil bildet darüber hinaus die Korrespondenz mit Autorinnen und Autoren, nicht selten SchülerInnen Schmidt-Denglers an der Universität Wien. Diese Rolle als Vermittler vor allem österreichischer Gegenwartsliteratur zeichnete sich zu Beginn seiner Karriere nicht unbedingt ab: Geboren 1942 in Zagreb studierte er Klassische Philologie und Germanistik, promovierte mit einer Arbeit über Augustinus und habilitierte sich mit einem Buch über die Bedeutung des antiken Geniusmythologems in der Goethezeit. Aber gerade dieser Fundus eines modernen Universalgelehrten war es, der die Basis für die Analyse der Gegenwartsliteratur und auch für die nötige Distanz zu ihr legte.
Die Vielfalt des Nachlasses eröffnet nicht nur Einblicke in die Arbeits- und Denkweise des rastlosen Lesers und Schreibers Schmidt-Dengler, sie dokumentiert auch eine wichtige Periode österreichischer Kulturgeschichte und der politischen Geschichte ab Mitte der 1960er Jahre bis zum Jahr 2008: In diese Zeit fällt die StudentInnenbewegung, eine Periode durchgreifenden gesellschaftlichen Wandels in Österreich in den 1970er Jahren und die Thematisierung der Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen. Es ist eine österreichische Besonderheit, dass die Literatur an all diesen Prozessen und Diskussionen entscheidenden Anteil hatte. Der Skandal um Thomas Bernhards Stück „Heldenplatz“ ist hier nur das herausragendste Ereignis.
Seit Februar 2010 wird der Nachlass in einem zweijährigen Projekt am Literaturarchiv aufgearbeitet. Damit ist die rasche archivarische Betreuung und inhaltliche Erschließung gewährleistet und die Basis für Forschungen und Editionen gelegt. In Teilen wird der Nachlass der Öffentlichkeit auch schon vor Ablauf des Projekts zur Verfügung stehen.
Quelle:
Medienberichte