orf: Rede von ÖNB-Direktorin Johanna Rachinger

Die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) hat am Donnerstag mit einem Festakt ihr 650-Jahr-Jubiläum gefeiert. Hier die Rede von Generaldirektorin Johanna Rachinger im Wortlaut: http://wien.orf.at/news/stories/2897060/

„Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Bundesminister, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, Eczellenzen, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen.

Das Jahr 2018 ist für die Österreichischen Nationalbibliothek ein ganz besonderes. Wir begehen unser 650-jähriges Jubiläum. Es gibt kaum eine Kulturinstitution in diesem Land, die auf eine so lange, traditionsreiche Geschichte zurückblicken kann. Und wir freuen uns, dieses Jubiläum begehen zu dürfen, denn Jubiläen sind so etwas wie das Rückgrat unserer Erinnerungskultur.

Wir haben einen bunten Reigen an Veranstaltungen vorbereitet, die sich über das ganze Jahr erstrecken werden. Schon im Jänner haben wir gemeinsam mit Herrn Bundesminister Blümel eine große Jubiläumsausstellung im Prunksaal mit dem Titel „Schatzkammer des Wissens“ eröffnet. Und heute begehen in Anwesenheit des Herrn Bundespräsidenten einen feierlichen Festakt.

Eine besondere Freude ist es mir, die heutige Festrednerin, Frau Prof. Aleida Assmann, begrüßen zu dürfen. Frau Professor Assmann ist Kulturwissenschaftlerin und eine der führenden Gedächtnisforscherinnen besonders in Bezug auf die gesellschaftliche und politische Dimension des Gedächtnisses bzw. des Erinnerns und Vergessens. Herzlich willkommen, Frau Prof. Assmann.

Meine Damen und Herren, Sie werden sich vielleicht fragen, worauf sich dieses 650-Jahr-Jubiläum begründet. Die Österreichische Nationalbibliothek besitzt keine Gründungsurkunde. Sondern wir berufen uns auf einen sogenannten Gründungscodex. Das ist eine wunderbare Prachthandschrift, die im Jahr 1368 im Auftrag des Habsburgerherzogs Alberecht III. fertiggestellt wurde.

Es handelt sich um ein durchgehend in Gold geschriebenes Evangeliar des Johannes von Troppau. Und es ist das erste nachweisbare Werk aus der habsburgischen Herzogsbibliothek, das sich bis heute im Bestand erhalten hat.

Dieses Jubiläum ist für uns auch Anlass, unser faszinierendes Haus noch stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken, als einen ganz besonderen symbolischen Ort der Geschichte und kulturellen Identität Österreichs. Dabei geht es auch um eine kritische Selbstreflexion: Was waren die entscheidenden Stationen in unserer wechselvollen Geschichte, wofür steht die Nationalbibliothek heute, und wie bewältigen wir die zukünftigen Herausforderungen.

Mit unserer Ausstellung, aber auch den vielen Veranstaltungen im Jubiläumsjahr, wollen wir darauf Antworten geben und ein lebendiges Bild einer Kultureinrichtung zeichnen, die stets aufs Engste mit der politischen Geschichte dieses Landes verknüpft war. Es ist die Geschichte einer Institution, die vor allem eines kennzeichnet: eine enorme Wandlungsfähigkeit.

Von der privaten Schatzkammer habsburgischer Herzöge über die repräsentative imperiale Hofbibliothek mit ihrem barocken Prunkbau am Josefsplatz bis hin zur Nationalbibliothek der Ersten und der Österreichischen Nationalbibliothek der Zweiten Republik führt ein Weg, der all die Bruchlinien und Krisen österreichischer Identität nachzeichnet.

Gerade in diesen radikalen Wandlungen und Entwicklungen liegt die unverwechselbare Identität der Bibliothek. In diesem Sinn ist dieses Haus ein besonderer Erinnerungsort österreichischer Geschichte und ein symbolischer Ort österreichischer Identität.

Neben dem politischen Wandel, der sich in der Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek widerspiegelt, spiegelt dieses Haus aber auch die tiefgreifenden Veränderungen in über 2.000 Jahren Mediengeschichte.

Von antiken Papyri und mittelalterlichen Pergamenthandschriften zu Inkunabeln und frühen Drucken, Zeitungen, Druckgrafiken und Fotografien bis hin zu den flüchtigen Onlinepublikationen reicht eine Entwicklung, die sich in den Beständen der Bibliothek und ihrer Sammelgeschichte ausdrückt.

In diesen 650 Jahren wurde ein faszinierender Bestand an Sammlungen und teilweise unikalen Dokumenten aufgebaut, die weit über die Grenzen des heutigen Österreich hinausweisen. Und Sie haben in diesem Jubiläumsjahr die wohl einmalige Chance, eine Auswahl der bedeutendsten und wertvollsten Objekte aus den Sammlungen dieses Hauses konzentriert an einem Ort im Original kennen zu lernen. Nämlich bei unserer Ausstellung im Prunksaal.

Der schon erwähnte Gründungscodex gehört ebenso dazu wie die für König Wenzel angefertigte „Goldene Bulle“, die 42-zeilige Gutenbergbibel, prachtvolle Frühdrucke von Kaiser Maximilian, Beispiele der berühmten Fugger-Bibliothek, topographische Ansichten Rudolf von Alts, Originalpartituren von Anton Bruckner und Gustav Mahler, Autographen von Sigmund Freud, Robert Musil und Ingeborg Bachmann.

Beschäftigt man sich mit der Geschichte dieser Bibliothek, stößt man unweigerlich auf große Persönlichkeiten, die die Hofbibliothek und spätere Nationalbibliothek geprägt haben:

wie etwa der Niederländer Hugo Blotius, der erste, der offiziell den Titel eines Bibliothekspräfekten trug oder der Universalgelehrte Gerard van Swieten, der nicht nur Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek war, sondern auch Leibarzt Maria Theresias, herausragender Mediziner und Reformer der medizinischen Ausbildung. Und immer gab es auch die sehr enge Verflechtung der Bibliothek mit der habsburgischen Herrscherfamilie und ihrer Sammelleidenschaft:

Persönlichkeiten wie Kaiser Franz I., dessen Porträtsammlung, die wohl umfassendste ihrer Zeit, der Hofbibliothek eine neue Dimension als historisches Bildarchiv erschließt. Eine ähnlich wichtige Rolle spielte etwa auch Erzherzog Rainer, ein Neffe Kaiser Franz Josephs. Ihm und dem hoch gebildeten Orientalisten und Bibliotheksdirektor Josef von Karabacek ist es zu verdanken, dass die Österreichische Nationalbibliothek heute die weltgrößte Papyrussammlung verwahrt.

Die nach und nach sich vollziehende Entstehung der Sondersammlungen sind wichtige Schritte zu einer Spezialisierung der Sammeltätigkeit. Es sind gerade diese wertvollen Sonderbestände, die heute das Profil und die Besonderheit unseres Hauses wesentlich prägen.

Mindestens genauso wichtig wie die kontinuierliche Vergrößerung ihrer Sammlungen ist aber auch die schrittweise Öffnung dieses riesigen Wissensspeichers für die Öffentlichkeit. Hier vollzieht sich die vielleicht bedeutendste und folgenreichste Entwicklung von einem privaten Familienschatz zu einem für alle Interessierten offenen Haus.

Kaiser Karl VI. widmet das von ihm beauftrage Bibliothekgebäude am Josefsplatz dem Nutzen des ganzen Volkes, seine bereits sehr modern klingende Benützungsordnung von 1726 war ein bedeutender Schritt auf diesem langen Weg. Heute stehen wir an einem vorläufigen Endpunkt dieser schrittweisen Öffnung des Hauses. Ein großer Teil der Bestände ist mittlerweile digitalisiert und so weltweit online abrufbar.

Dennoch sind unsere Lesesäle an sieben Tagen die Woche voll ausgelastet mit Besucherinnen und Besuchern, die auch im digitalen Zeitalter die besondere Atmosphäre dieses Hauses schätzen.

Die Demokratisierung des Wissens geht Hand in Hand mit einer Demokratisierung der Gesellschaft. Freier Zugang zum Wissen ist eine Bedingung für eine funktionierende Demokratie. Nur wenn Wissen allgemein zugänglich und nicht privilegierten Eliten vorbehalten ist, kann es mündige Bürgerinnen und Bürger geben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu unserer Besinnung auf 650 Jahre Geschichte gehören aber auch dunkle Kapitel. Insbesondere gilt dies für die Epoche des Nationalsozialismus, in der die Bibliothek als Instrument politischer Willkür und Machtausübung missbraucht wurde und sich in großem Umfang an den Sammlungen und Bibliotheken rassisch und politisch Verfolgter bereichert hat.

Erst sehr spät ist es uns gelungen, hier die eigene Geschichte ehrlich und vorbehaltlos aufzuarbeiten, immer noch im Haus befindliche Reste geraubter Bestände zu restituieren und so die Schatten der Vergangenheit endgültig zu beseitigen. Es war uns wichtig, gerade in dieser konsequenten Aufarbeitung der Vergangenheit auch ein Vorbild für andere Institutionen zu sein.

Wenn dieses Haus in seinem Anspruch Gedächtnis der Nation zu sein, glaubwürdig sein möchte, liegt gerade darin eine selbstverständliche und absolut notwendige Verpflichtung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch einen Blick in die Zukunft werfen. Von der schrittweisen Öffnung der Hofbibliothek im Zeitalter der Aufklärung, über die Einrichtung von großzügigen Lesesälen und benützerfreundlichen Katalogen bis hin zur digitalen Nutzung der Bestände via Internet führt eine kontinuierliche Entwicklung der Ausweitung des Zugangs zum Wissen.

Die digitale Revolution stellt Bibliotheken vor ganz neue Herausforderungen und bietet ihnen gleichzeitig ungeahnte Chancen. Nur wenn es uns gelingt, mit den modernen Informationstechnologien, mit der ungeheuren dynamischen Entwicklung und damit auch mit den sich rasch wandelnden Erwartungen unserer Benützerinnen und Benützer Schritt zu halten, werden wir unseren Platz in der modernen Wissensgesellschaft behalten.

In unserer Vision 2025 haben wir versucht, unsere Position und unsere Aufgaben in der zukünftigen Gesellschaft visionär zu bestimmen, und wir sind zuversichtlich, dass die Österreichische Nationalbibliothek auf einem guten Weg in die Zukunft ist.“

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