„Die Leih-Bibliothek“ (aus: Ignaz Franz Castelli, Wiener Lebensbilder, Wien 1828)

Im Verlag Bibliothek der Provinz sind Castellis Wiener Lebensbilder aus 1828 mit einem längerem Vorwort von Wolfgang Katzenschlager neu aufgelegt worden (Vinzenz Ignaz Franz Castelli, Wiener Lebensbilder. Skizzen aus dem Leben und Treiben in dieser Hauptstadt. Mirt biuographischem Vorwort von Wolfgang Katzenschlager, Weitra 2012). Es findet sich auch ein humoriges Kapitel über die Leihbibliothek darin. Der Text kann auch via dem Projekt Gutenberg nachgelesen werden

Ignaz Franz Castelli: Wiener Lebensbilder. Skizzen aus dem Leben und Treiben in dieser Hauptstadt, Wien 1828

[…]

XI. Die Leih-Bibliothek.

Auch einmahl ein Guckkastenbild, mein lieber freundlicher Leser, in welchem die einzelnen Gestalten schnell vor deinen Blicken vorüber wandeln werden, und schneller wieder verschwinden, als manche Bücher der Leih-Bibliothek. Es ist doch etwas schönes, daß die Nahrung für den Geist nicht so theuer ist, als die consistente Leibesnahrung, und daß man sich für wenige Kreuzer des Tages satt – ja übersatt lesen kann. Geistes- und Leibesnahrung kann man übrigens recht gut mit einander vergleichen: Die Cataloge sind bey jener was bey dieser die Speisezettel sind, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß auf dem Speisezettel der Kellner doch wenigstens durchstreicht, was nicht vorhanden ist, bey den Catalogen aber die Speisen stehen bleiben, wenn man auch bey hundertmahligem Verlangen immer die Antwort erhält: »Ist für dießmahl nicht zugegen!« Der Commis, welcher der Leih-Bibliothek vorsteht, (denn der Principal selbst betrachtet diesen Zweig seines Buchhandels nur als ein Appertinens, und bekümmert sich nur um den Profit, den er abwirft,) also der dirigirende Herr Commis ist der Aufwärter, der die Speisen den Lesehungrigen recommandirt oder ausredet, bey neu angekommenen Werken Protectionen austheilt, so wie beyläufig der Kellner zu thun pflegt, der einem Gaste in’s Ohr versichert, die Mehlspeise sey von gestern, und daher schon trocken und altgebacken, indessen er einen andern, der eben davon verlangt, versichert, sie schmecke sehr gut, und ihm diese Speise reicht. Ich könnte den Vergleich zwischen leiblicher und geistiger Nahrung hier bis in’s Unendliche fortsetzen, und vom Verderben des Magens, unausgekochten Speisen, verbrannten Leckerbissen &c., noch ein Sattsamliches schwätzen, allein die Einleitung würde manchen Leuten eben so lange werden, als manches Buch, welches sie aus der Leih-Bibliothek erhalten, daher unverzüglich an das Guckkastenbild selbst.

Belieben Sie zu schauen, meine Herrn und Damen, ein gewölbtes Zimmer zu ebener Erde, worin Ihr Auge keinen andern Gegenstand gewahr wird, als Bücher; sie sind vom Boden bis zur Decke in Stellen gereiht, bald liegend, bald stehend – hinter einander, über einander, die meisten in gleiche Farbe gebunden, nur wenige, die sich gleich den weißen Raben auszeichnen, in Maroquin- oder Lederband. Sie werden bemerken. daß viele sehr abgegriffen sind – das sind die Glücklichen, die von Hand zu Hand wandern, nicht weil sie die besten sind, sondern weil sie dem herrschenden Geschmacke am meisten zusagen. Es sind meist RomaneZeitschriften und Taschenbücher. Historische und geographische Werke werden von 1000 Pränumeranten des Jahres nicht Ein Mahl verlangt, von den Werken der sogenannten Mode-Erzähler hingegen ist nie Ein Band zu Hause, und der Herr Commis versichert, von den 20,000 Bänden der Bibliothek seyen 19,000 rein überflüssig, und nur 1000 im beständigen Umlaufe, die übrigen kämen nicht von ihrer Stelle, außer wenn sie des Jahres zwey Mahl gereinigt werden.

Ich bat den Inhaber und den dirigirenden Commis, der mein sehr guter Freund ist (wir wollen ihn Sprung nennen) einmahl einen halben Tag im Zimmer, wo die Leute die Bücher hohlen, zubringen zu dürfen, und es wurde mir gestattet. Was ich nun da sah und hörte, soll die einzelnen Decorationen meines Guckkastens ausmachen. Siehe und höre mit mir zu, mein lieber Leser. …

Ganzer Text unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/5556/13

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