ien (OTS) – Am 12.1.2010 um 16 Uhr 53 Ortszeit (22 Uhr 53 MEZ) erschütterte ein Erbbeben mit der Stärke 7 auf der Richterskala den im westlichen Teil der Insel Hispaniola in den Großen Antillen gelegenen karibischen Staat Haiti (im Ostteil liegt die Dominikanische Republik). Das Hypozentrum lag etwa 25 Kilometer westsüdwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince in einer relativ geringen Tiefe von 13 Kilometern, das Beben dauerte etwa 1 Minute.
Dieses Beben löste die größte humanitäre Katastrophe seit dem Bestehen der Vereinten Nationen aus; es kostete wahrscheinlich 200.000 Menschen das Leben, bis zu 3 Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen, verletzt und obdachlos. Die öffentliche Infrastruktur im Großraum Port-au-Prince ist größtenteils zerstört, ebenso sind etwa 90% der Wohnungen und Wohnhäuser eingestürzt. Die staatliche Ordnung ist völlig zusammengebrochen, auch weil sehr viele Vertreter des Staates, angefangen von Ministern bis hin zu vielen Beamten, Polizisten usw. selbst Opfer des Bebens geworden sind. Die internationale Hilfe ist nun voll angelaufen.
Es ist die Kernaufgabe des internationalen Blue-Shield-Netzwerks, bei großen Katastrophen aller Art zu helfen, das Kulturgut der betroffenen Region zu schützen bzw. zu bergen und zu retten. Nach Bewältigung der humanitären Katastrophe wird mit dem Wiederaufbau begonnen werden, doch erste Schritte zur Rettung des kulturellen Erbes von Haiti, das wesentlich die kulturelle Identität der dort lebenden Menschen konstituiert, müssen bereits jetzt gesetzt werden, sonst sind sehr viele Kulturgüter für immer verloren. Die Association of National Committees of the Blue Shield (ANCBS) mit ihrem zentralen Büro in Den Haag hat in Zusammenarbeit mit ihren nationalen Komitees – wie auch dem Österreichischen Nationalkomitee Blue Shield (ONKBS) – begonnen, Informationen zu sammeln und zu verbreiten, um Hilfe in die Wege leiten zu können. Das wichtigste ist nun, rasch Kontakt mit den zuständigen Behörden und Experten in Haiti zu bekommen, um zu erfahren, was wann und wo am dringendsten gebraucht wird. In der konkreten Situation ist leider zu befürchten, dass u.a. viele KollegInnen, die für die Bewahrung des kulturellen Erbes Haitis zuständig waren bzw. sind, unter den Opfern sind. Blue Shield hat virtuelle Kommunikationsforen eingerichtet, sodass rasch und unkompliziert Informationen ausgetauscht werden können. Experten aus dem Bereich des Kulturgüterschutzes werden gebeten sich schon jetzt für einen möglichen Hilfseinsatz in Haiti melden:
- – Blue Shield website: http://haiti2010.blueshield-international.org/
- – Facebook: http://www.facebook.com/group.php?v=info&gid=247281734340
- – Twitter thread: blueshieldcoop
Haiti ist das Armenhaus Amerikas, als einziges Land am amerikanisches Doppelkontinent zählt es zu den 50 „am wenigsten entwickelten Ländern“ der Welt – ein von der UNO definierter sozialökonomischer Status, umgangssprachlich auch „Vierte Welt“ genannt. Dieser Umstand darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewohner Haitis auf eine reichhaltige Geschichte ihres Landes zurückblicken können, die ein vielfältiges kulturelles Erbe hervorgebracht hat. Dieses Identität stiftende kulturelle Erbe hat durch das jüngste Erdbeben ebenfalls in katastrophalem Ausmaß gelitten, viele Kulturgüter sind zerstört oder schwer beschädigt. Zu den bekanntesten Bauwerken zählt das Palais national oder Palais présidentiel, 1912 vom herausragenden haitianischen Architekten Georges H. Baussan entworfen, von dem auch das Municipalité stammt. Nicht weniger bekannt ist die 1914 konsekrierte neo-romanische
Cathédrale Notre-Dame de Port-au-Prince. Beide Gebäude, gleichsam Wahrzeichen der Stadt, sind durch das Erdbeben fast völlig zerstört. Andere kulturelle Institutionen ersten Ranges sind das Musée National, in dem neben anderen bedeutenden Objekten auch ein Anker der Santa Maria, des Flagschiffs von Kristoph Kolumbus, gezeigt wird, das Nationalarchiv, die Nationalbibliothek, das „Musée d’Art Haitien du Collège Saint-Pierre“ oder das „Centre d’Art“, das eng mit dem berühmten haitianischen Maler und Bildhauer Gesner Abelard verbunden ist. Noch ist das Ausmaß der Schäden bei diesen Institutionen nicht erfasst. Eine besondere kulturelle Einrichtung ist die Voodoo-Sammlung der Schweizerin Marianne Lehmann in Port-au-Prince, die eine der größten und bedeutendsten Sammlungen dieser Art in der Welt darstellt; ein eigenes Museum war bzw. ist in Planung. Viele Exponate befinden sich derzeit auf einer Wanderausstellung durch Europa. Port-au-Prince verfügt auch über eine Reihe von viktorianischen Villen im Gingerbread-Stil, die u.a. besondere Touristenattraktionen darstellten, am bekanntesten war wohl das Hotel
Oloffson aus dem späten 19. Jh., das in Graham Greenes berühmten Roman „The Comedians“ (1966) für das fiktionale Hotel Trianon Pate stand; viele dieser Bauten sind durch das Beben beschädigt oder zerstört.