Roland Sila, Kustos der Ferdinandeums-Bibliothek, war so freundlich, für das VÖBBLOG einen aktuellen Situationsbericht zur Lage und zur weiteren Vorgangweise in Innsbruck zu geben:
Situationsbericht zur Bibliothek des Ferdinandeums nach den Unwetterschäden (22.07.2010)
Zur Chronologie
Am Samstag, den 17.7.2010 zog zwischen 14.40 Uhr und 15.00 ein Hagelsturm über Innsbruck, der, auch aufgrund seiner langen Dauer, das Innsbrucker Kanalsystem so stark überlastete, dass sich im gesamten Innenstadtbereich ein Rückstau bildete, der u.a. die Innsbrucker Altstadt einen halben Meter unter Wasser setzte (vgl. Fotos von der TT). Leider war hiervon auch das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum betroffen. Das Wasser, das sich um das Museum und im Museumsinnenhof aufgestaut hatte, rann über das Stiegenhaus des Servicetraktes in die Untergeschosse und über eine Notausgangstür in den Schausammlungsbereich, der im 1. Untergeschoss des Hauses liegt. Von dort bahnte sich das Wasser durch elektrische Leitungen, Lüftungsschächte, Baufugen etc. den Weg in die Untergeschosse und trat besonders stark an einer Stelle der Decke unseres Zeitschriftendepots aus.
Bilder: Peter Pock / TLM
Zur Rettungsaktion
Bei meinem Eintreffen gegen 15.25 Uhr wurde bereits emsig an einer Abdeckung für die Kompaktanlagen gearbeitet, um einen weiteren direkten Wassereintritt auf die Bestände zu verhindern. In den folgenden Stunden arbeiteten ca. 50 Mitarbeiter des Hauses bzw. Freiwillige an der Rettung der betroffenen Zeitschriftenbestände. Da auch die Lifte unter Wasser standen, wurden Menschenketten gebildet, die die Bücherkisten über das Stiegenhaus in den trockenen Lesesaal brachten. Parallel dazu wurde daran gearbeitet, die Lifte wieder in Betrieb zu bekommen und als das gelungen war, konnten die Kisten direkt in den Lesesaal geliefert werden. Während der erste Teil der Mannschaft zur Rettung der Bestände im betroffenen Depot eingeteilt war, wurde der zweite Teil der Helfer dazu eingeteilt, die feuchten/nassen Bestände von den trockenen Beständen zu trennen. Erschwerend kam hinzu, dass wir nur mit Notlampen im betroffenen Depot arbeiten konnten, da durch den Wassereintritt die Deckenbeleuchtung zu gefährlich gewesen wäre. Die Rettungsaktion dauerte bis 1 Uhr früh.
Im Hintergrund waren folgende Dinge zu organisieren:
- Wir brauchten dringend ein Kühlhaus.
- Zum Transport brauchten wir Plastikkisten.
- Es wurden möglichst viele Entfeuchter benötigt.
Alles konnte, schwer aber doch, im Laufe des Abends organisiert werden. Gegen 22 Uhr bzw. 23.30 Uhr wurden zwei LKW-Ladungen mit den am stärksten betroffenen Büchern in ein Kühlhaus gebracht und sofort eingefroren.
Sonntag früh konnte dann mit Licht eine weitere Sichtung des Bestandes vorgenommen werden und leider mussten noch weitere betroffene Bestände festgestellt werden. Parallel dazu wurde der am Vorabend in den Lesesaal gelieferte Bestand nochmals einzeln gesichtet, damit sichergestellt werden konnte, dass sich keine feuchten Bücher mehr dazwischen befinden und wir die Gefahr einer Schimmelbildung bannen konnten. Auch wurden die Bestände in der Bibliothek alle gestellt und auch dieser Raum wurde mit zahlreichen Entfeuchtern bestückt. Die zweite Lieferung in das Kühlhaus wurde dann am Sonntag Nachmittag durchgeführt. Es handelte sich dabei um nicht so stark betroffene Bestände, die wir sicherheitshalber einfrieren ließen.
Was wir aus der Wasserkatastrophe gelernt haben:
- Es war zwar Abdeckmaterial im Haus, aber nicht immer an jenen Stellen, die betroffen waren. Auch eine Stelle mit gefüllten Sandsäcken sollte eingerichtet werden.
- Naturkatastrophen können immer stärker ausfallen, als man annimmt – ich kenne keinen Innsbrucker, der sich an einen Hagelsturm dieser Dimension und Länge erinnern kann.
- In der Notsituation ist eine klare Entscheidungsstruktur wichtig.
- Es sollten an mehreren Stellen die wichtigsten Notrufnummern bzw. Handynummern der Kollegen im Haus aufliegen (auch wenn bei uns der Informationsfluss sehr schnell gelang, sich die Kollegen gegenseitig informierten, hatten wir das „Glück“, dass der Wassereinbruch nicht in der Nacht stattfand).
- Über Bibliotheksdepots, die in Untergeschossen liegen, sollten dringen Wannen installiert werden, die als Auffangbecken für Wasser dienen.
Status Quo
Zirka 1200 Zeitschriften (mit ca. 20000 Bänden) sind stark oder leicht von den Auswirkungen betroffen. Momentan lagern die Bestände in drei verschiedenen Bereichen: im Kühlhaus der am stärksten geschädigte Bereich, im Lesesaal der evakuierte Bereich und in einem Ausweichdepot der nicht betroffene aber gesicherte Bereich (nochmals ca. 30.000 Bände). Neben den ständigen Bemühungen um Trocknung und Sicherstellung der Restaurierung bzw. die Beschleunigung derselben durch Anschaffung eines zusätzlichen Trockenofens etc. stehen wir nun vor einer logistischen Herausforderung:
Die mittelfristige geordnete Zusammenführung des Zeitschriftenbestandes. Parallel dazu muss erhoben werden, welcher Bestand unter Umständen leicht ersetzt werden kann (Schriftentauschpartner, die Bände zur Verfügung stellen, Dubletten von befreundeten Institutionen etc…), damit die Restaurierung beschleunigt werden kann, indem jene Bestände, die ersetzt werden, nicht restauriert werden müssen. Auch versuchen wir, Kapazitäten für Arbeiten bei den lokal ansässigen Papierrestauratoren bzw. Buchbindern zu reservieren.
Trotz allem wird wohl ein gewisser Teil des Bestandes, und ich hoffe inständig, dass es sich nur um einen sehr, sehr geringen Teil handelt, verloren sein. Ziel jedoch bleibt es, diesen Teil antiquarisch zu ersetzen. Auch wenn wir dafür momentan noch keine Zeit haben, so sind mit Sicherheit Benefizveranstaltungen für die Bibliothek geplant bzw. hoffe ich, durch externe Sponsoren uns eine gewisse Bewegungsfreiheit zu sichern. Und auch hier muss man schnell sein, denn die nächste Katastrophe kommt sicher – und dann ist die eigene bereits wieder von den potentiellen Geldgebern vergessen.
Nachwort
Die Anfrage des VÖBBLOG hat mich wirklich sehr gefreut. Sie reiht sich ein in die Vielzahl an schönen und solidarischen Begegnungen, Briefen und Telefonanrufen. Dies hilft und motiviert in einer Extremsituation sehr – herzlichen Dank. Momentan funktionieren wir, was auch unbedingt notwendig ist, aber wahrscheinlich wird die verdrängte Emotion sich am Wochenende, wenn wir uns die erste Ruhepause gönnen, sich ihren Weg bahnen.
Und eines zeigt sich auch, das das Schicksal der Bibliotheksarbeit zu sein scheint. Jahrelang versuchen engagierte Menschen tolle Arbeit zu leisten und es profitieren unzählige Menschen davon. Die Medien interessiert es nicht, aber kaum ist eine „Katastrophe“ in Sicht, so häufen sich die Anfragen und die Notfallmaßnahmen werden blockiert – die einzige Situation am Wochenende, als ich Aggression in mir spürte, aber wie wir alle wissen sind eben bad news für die Medien good news.
Roland Sila, Kustos der Ferdinandeums-Bibliothek
Tiroler Landesmuseen Betriebsgesellschaft m.b.H.
Museumstr. 15
6020 Innsbruck